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Europawahl 2024

Ein SPD-Wahlplakat wird abgebaut.
analyse

Nach der Europawahl Der Ampel stehen unruhige Zeiten bevor

Stand: 10.06.2024 05:44 Uhr

Zwei Parteien trauern, eine atmet erleichtert auf. Für die Ampelkoalition war die Europawahl eine Enttäuschung. Nun wollen sich alle beweisen. Die Haushaltsverhandlungen dürften turbulent werden.

Von Moritz Rödle, Tina Handel, ARD-Hauptstadtstudio und Frank Jahn, ARD Berlin

Als die beiden Parteivorsitzenden der SPD gemeinsam mit der Spitzenkandidatin Katarina Barley zum Statement ansetzen, ist es plötzlich still im Willy-Brandt-Haus. Noch nie hat die SPD nach dem Krieg bei einer bundesweiten Wahl schlechter abgeschnitten. Die Partei muss diese Niederlage offenbar erst verdauen und sie trauert öffentlich.

Und das, obwohl die Wahlziele wirklich nicht hoch lagen. Ein Ergebnis wie 2019 hätte den Sozialdemokraten ausgereicht, um einigermaßen zufrieden aus diesem Wahlabend zu gehen. Lars Klingbeil und Saskia Esken sprechen stattdessen von einem bitteren Abend. Man werde das Ergebnis und die Gründe dafür sicher aufarbeiten. Das Bitterste an diesem Wahltag sei aber das Abschneiden der AfD.

Falsche Themen bei der SPD?

Die SPD hat im Wahlkampf stark auf den Kampf gegen rechts gesetzt und dabei wohl nur noch Teile ihrer möglichen Wählerschaft angesprochen. Die Arbeiter zum Beispiel hat die Partei offenbar an die AfD verloren. Hier holt die SPD nur unterdurchschnittliche 12 Prozent. Die AfD dagegen 34 - und das wenige Monate vor den Wahlen in drei ostdeutschen Bundesländern.

Personelle Konsequenzen wird es trotzdem nicht geben. Die beiden Parteivorsitzenden sitzen fest im Sattel und Kanzler Olaf Scholz gewinnt bei den Genossinnen und Genossen zwar keinen Beliebtheitswettbewerb, es gebe aber keine realistische Alternative zu ihm, sagen viele. Wo also nachschärfen? Die Nachwahlbefragung der ARD könnte Hinweise geben: 85 Prozent der Wähler stimmen darin der Aussage zu: "Olaf Scholz müsste in der Bundesregierung klarer die Richtung vorgeben." 77 Prozent sind auch bei der Aussage, die SPD "hat in der Regierung viel versprochen, aber bei den Menschen kommt wenig an", dabei.

SPD-Parteivorsitzende Saskia Esken: "Das ist tatsächlich ein bitteres Ergebnis"

Wahl 2024 - Europawahl, 09.06.2024 18:00 Uhr

Das nächste Konfliktfeld für die Ampel

In seinem Statement am Wahlabend kündigt Klingbeil mehr inhaltliches Profil an. Die Erwartungen der SPD-Wähler seien, dass man für stabile Renten, bezahlbare Mieten und Investitionen in die Infrastruktur eintrete. Genau diesem Auftrag wolle man nachkommen.

"Unsere Leute wollen uns kämpfen sehen, auch bei den anstehenden Haushaltsverhandlungen." Die Haushaltsverhandlungen sind also das nächste Konfliktfeld. Und die SPD hat offenbar die Botschaft der Wählerinnen und Wähler aufgenommen. SPD-Politik liefern - auch gegen die Widerstände vor allem aus der FDP aber auch von den Grünen. Das könnte in den nächsten Wochen das ohnehin schon schlechte Koalitionsklima noch stärker belasten.

Grüne Identitätskrise

Bei den Grünen trifft die SPD damit auch auf einen Koalitionspartner, der sich auch erstmal sammeln muss nach diesem für sie katastrophalen Wahlergebnis. Die Grünen sind in einer Identitätskrise angekommen. Auf der grünen Wahlparty ist die Stimmung am Abend ähnlich wie im Willy-Brandt-Haus. Bei der Prognose bleibt es fast still im Saal. Bemerkenswert: Außenministerin Annalena Baerbock und Wirtschaftsminister Robert Habeck sind gar nicht erst erschienen. Womöglich wollen sie sich das zuvor schon erwartete schlechte Ergebnis nicht anheften lassen.

Dass die Grünen verlieren gegenüber der letzten Europawahl, das haben eigentlich alle hier erwartet. Dass sie selbst das Bundestagswahlergebnis nicht annähernd erreichen, schockt die Partei spürbar. Im Wahlkampf habe man "rauen Wind von vorn" erlebt, sagt Parteichef Omid Nouripour auf der Bühne. Zugleich hatte der neue Mitgliederrekord, den die Partei in den letzten Wochen verkündet hatte, viele eigentlich hoffen lassen.

Markus Preiß, ARD Berlin, zu ersten Hochrechnungen der Europawahl in Deutschland

tagesschau, 09.06.2024 20:00 Uhr

Grüne verlieren bei jungen Wählenden

Die Interpretation in der Partei: In ihrer Kernklientel wird die Unterstützung stärker. Aber: Über ihre Stammwählerschaft hinaus können sie im Moment kaum punkten. Klimaschutz war 2019 das wichtigste Wahlthema - dieses Mal war dieses grüne Kernthema kaum gefragt. Friedenssicherung sei ihnen wichtig, sagten viele Befragte in Umfragen vorab. Die Grünen müssen sich fragen, warum sie als selbsternannte Friedenspartei davon nicht profitieren.

ARD-Wahlexperte Jörg Schönenborn, WDR, zu den Absturz der Grünen bei der Europawahl

tagesschau, 10.06.2024 09:00 Uhr

Besonders still wird es im Saal, als auf der großen Videowand Prognosezahlen der jungen Wähler erscheinen. Dort stürzen die Grünen massiv ab: ein Minus von 18 Prozent bei den unter 30-Jährigen. Das ist genau die Wählergruppe, auf die sich die Grünen in der Vergangenheit immer verlassen konnten. Nun wählt sie die Partei nicht mehr so deutlich wie in den vergangenen Jahren. Überdurchschnittliche viele junge Stimmen gehen stattdessen an Kleinparteien wie Volt, und auch die AfD legt kräftig zu in dieser Altersgruppe. Woran liegt das? Sind die jungen Wähler gar nicht so große Klimaschützer wie angenommen? Sind sie von den Grünen in der Regierung enttäuscht? Eine Frage, die sicher Teil der Nachwahlanalyse bei den Grünen sein wird.

Erleichterung bei der FDP

Während bei den zwei größeren Ampelparteien Katerstimmung herrscht, jubelt die FDP, als im Genscher-Haus die ersten Zahlen auf den Bildschirmen auftauchen und die Anwesenden die FDP bei 5 Prozent sehen. Auf den ersten Blick verwundern die freudigen Gesichter etwas, denn die Freien Demokraten liegen unter ihrem Ergebnis der vergangenen Europawahl von 5,4 Prozent. Doch offenbar atmen sie bei den Liberalen auf, weil sie nicht noch schlechter abgeschnitten haben. Lang lag die FDP im Wahlkampf in Umfragen bei 4 Prozent und darunter.

Und traditionell strafen die Deutschen bei Europawahlen gern auch die amtierende Bundesregierung ab. Den Hochrechnungen zufolge muss zwar auch die FDP einen Dämpfer bei den Prozenten hinnehmen. Doch die FDP habe mit Blick auf die Wahl 2019 das "Ergebnis gehalten", lautet die Bewertung der Parteiführung.

FDP-Spitzenkandidatin Marie-Agnes Strack-Zimmermann: "Unsere Nachricht wurde gehört"

Wahl 2024 - Europawahl, 09.06.2024 18:30 Uhr

Beim Haushalt will die FDP punkten

Er sei "erleichtert", sagt der Generalsekretär Bijan-Djir-Sarai. Und die Spitzenkandidatin Marie-Agnes Strack-Zimmermann spricht von einem "guten Abend für die Freien Demokraten". Einen Grund für ihr Abschneiden sieht die FDP darin, dass sie den Fokus im Wahlkampf auf das Thema Wirtschaft richtete. Es dauert dann auch nicht lang am Wahlabend, bis der Generalsekretär bekräftigt, die FDP fordere "eine echte Wirtschaftswende für Deutschland".

Dafür soll die Ampel nach dem Willen der FDP auch im Haushalt entsprechende Prioritäten setzen. Und die FDP beharrt darauf, dass die Wende ohne höhere Steuern und unter Einhaltung der Schuldenbremse geschafft werden soll. Nach dem - wie sie es sehen - Achtungserfolg bei der Europawahl will die FDP in der Ampel ganz sicher nicht leiser auftreten. 

Das Wahlergebnis könnte also für verschärfte Konflikte in der Ampel sorgen.

Uli Hauck, ARD Berlin, tagesschau, 10.06.2024 05:25 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Inforadio am 10. Juni 2024 um 06:20 Uhr.